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Kleśas und Saṃskāras – Die inneren Landschaften der menschlichen Psyche
Eine begriffliche Klärung zentraler Strukturen im Yoga-Sūtra
In der klassischen Yogaphilosophie sind Kleśas und Saṃskāras zwei miteinander verbundene Konzepte, die beschreiben, wie das menschliche Erleben durch innere Strukturen geprägt wird. Während die Kleśas für emotionale Reaktionsmuster stehen, beschreiben die Saṃskāras die tieferliegenden Eindrücke und Prägungen, die diese Reaktionen begünstigen.
Kleśa (क्लेश)
Wortstamm: kliś – „quälen“, „belasten“, „verwirren“
Kleśas sind leidverursachende Kräfte im Geist. Sie trüben die Wahrnehmung, erzeugen emotionale Verstrickungen und prägen unser Denken und Verhalten, oft ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Im Yoga Sūtra II.3 benennt Patañjali fünf Hauptkleśas:
„Avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśāḥ kleśāḥ“
(Yoga Sūtra II.3)
„Unwissenheit, Ich-Verhaftung, Anhaftung, Abneigung und Todesfurcht sind die Ursachen des Leidens.“
- Avidyā – Unwissenheit über die wahre Natur des Selbst
- Asmitā – Ich-Verhaftung (Identifikation mit Körper, Rolle oder Gedanken)
- Rāga – Anhaftung an das Angenehme
- Dveṣa – Abneigung gegen das Unangenehme
- Abhiniveśa – Lebensangst bzw. Angst vor dem Tod
Diese fünf Kräfte sind nicht moralisch „falsch“, sondern funktionale Reaktionsmuster, die sich aus Unwissenheit heraus entwickeln. Sie gelten im Yoga als grundlegende Ursachen allen inneren Leidens (duḥkha).
Ihre Wirkungen können laut Yoga Sūtra II.11 durch meditative Praxis transformiert werden:
„Dhyāna-heyās tad-vṛttayaḥ“
(Yoga Sūtra II.11)
„Die Wirkungen (der Kleśas) können durch Meditation überwunden werden.“
Saṃskāra (संस्कार)
Wortstamm: sam („zusammen“) + kṛ („machen, formen“)
Wörtlich: „das, was durch Wiederholung geformt wurde“
Saṃskāras sind latente Eindrücke im Geistfeld (citta), die durch frühere Erfahrungen, Handlungen oder bewusste Entscheidungen entstanden sind. Sie wirken wie psychische „Rillen“ im Bewusstsein, entlang derer zukünftige Gedanken und Handlungen leichter ablaufen.
Saṃskāras entstehen aus wiederholtem Handeln, aber auch aus intensiven Erfahrungen. Sie sind langlebig und beeinflussen sowohl das individuelle Verhalten als auch karmische Tendenzen.
Patañjali beschreibt diese Verbindung zwischen Kleśas, Saṃskāras und zukünftiger Erfahrung im Yoga Sūtra II.14:
„Sati mūle tadvipāko jātyāyur-bhogāḥ“
(Yoga Sūtra II.14)
„Solange ihre Wurzel (die Kleśas) nicht entfernt ist, bringen die Saṃskāras immer wieder Früchte – in Form von Geburt, Lebensspanne und Erfahrungen.“
Verhältnis von Kleśas und Saṃskāras
Kleśas und Saṃskāras stehen in einem wechselseitigen Verhältnis:
- Kleśas sind die aktiven Reaktionskräfte, die sich in Gedanken, Emotionen und Handlungen äußern.
- Saṃskāras sind die tiefen Speicherstrukturen, aus denen diese Reaktionen gespeist werden – oder in denen sie sich nach Wiederholung erneut ablagern.
Im Zusammenspiel bilden sie einen psychischen Kreislauf: Prägung erzeugt Reaktion – Reaktion verstärkt Prägung.
Weiterführend
Ein persönlicher Blogbeitrag beleuchtet, wie sich Kleśas und Saṃskāras im Alltag zeigen – außerhalb des Übungskontextes.
[→ Zum Blog: Mit Kleśas leben – Wenn alte Muster auftauchen