(Ein persönlicher Gedanke zu Vairāgya im Alltag)
Ihr Lieben,
im Yoga-Wiki habe ich den Begriff Vairāgya beschrieben – Nicht-Anhaftung. In den alten Yogaschriften meint das: innerlich frei sein, nicht an etwas kleben, sich nicht in Gedanken, Emotionen oder Urteilen verfangen.
Das klingt auf den ersten Blick vielleicht etwas trocken oder distanziert – aber wenn man es näher betrachtet, steckt darin eine ganz praktische Qualität:
Klarheit, Gelassenheit, ein Raum, in dem man nicht automatisch reagieren muss.
In diesem Beitrag möchte ich diesen Begriff auf eine etwas alltagsnähere Weise beleuchten – nicht akademisch, sondern aus der Perspektive:
Wie fühlt sich das an, wenn man nicht sofort mitgeht? Wenn man etwas stehen lassen kann – in sich und im Außen?
Die Welt ist nicht unser Projekt
Was ich immer wieder beobachte – auch bei mir selbst – ist der starke Impuls, die Dinge in Ordnung bringen zu wollen:
etwas kommentieren, eingreifen, helfen, richtigstellen.
Das klingt oft nach Mitgefühl, ist aber manchmal auch einfach ein altes Muster: das Bedürfnis, recht zu haben, dazuzugehören oder sich moralisch auf der sicheren Seite zu fühlen.
Besonders im Yoga-Kontext kenne ich das gut – das Ideal, ein „guter Mensch“ zu sein, möglichst bewusst, engagiert, ethisch.
Aber vielleicht, nur vielleicht, wird es manchmal zu eng.
Vairāgya heißt für mich in solchen Momenten: innehalten.
Nicht sofort reagieren. Nicht gleich wissen müssen, was richtig ist.
Einfach wahrnehmen, was da ist – in mir und um mich herum.
Es gibt nichts zu retten – nur zu erkennen
Natürlich gibt es Situationen, in denen wir helfen möchten – wenn jemand leidet, wenn Unrecht geschieht. Das ist verständlich.
Und gleichzeitig lohnt sich manchmal die Frage:
Was genau in mir möchte da jetzt eingreifen?
Ist es echtes Mitgefühl – oder ein Unbehagen, das ich loswerden will?
Ist es Klarheit – oder vielleicht ein Bedürfnis, die Kontrolle zu behalten?
Ich habe die Erfahrung gemacht:
Nicht alles, was schwierig aussieht, braucht sofort eine Lösung. Manche Dinge entfalten sich auf eine Weise, die erst später verständlich wird.
Vielleicht erinnerst du dich selbst an eine Entscheidung, die du irgendwann getroffen hast – etwa vegetarisch zu leben. Und vielleicht war das kein Ergebnis einer Diskussion oder Debatte, sondern etwas, das einfach in dir gewachsen ist.
Plötzlich war es da – stimmig, ruhig, klar.
Solche Entscheidungen brauchen keinen Druck.
Wenn du heute merkst, dass du andere von deiner Sichtweise überzeugen willst, lohnt sich vielleicht ein Innehalten:
Kommt das wirklich aus Klarheit – oder eher aus Reibung?
Vairāgya ist stille Würde
Für mich ist Vairāgya kein Rückzug. Es ist auch nicht Gleichgültigkeit.
Es ist eher ein inneres Zurücktreten, ohne sich abzuwenden.
Eine Form von Würde, die nicht aus Stolz kommt, sondern aus Klarheit.
Es beginnt ganz einfach:
Du siehst etwas – eine Haltung, ein Verhalten, ein Kommentar – und du merkst, wie sich in dir etwas regt.
Und genau da liegt die Freiheit:
Muss ich reagieren? Oder kann ich es stehen lassen?
„Nicht-Anhaftung ist nicht dasselbe wie Gleichgültigkeit, Rückzug oder Losgelöstheit. Missverständnisse darüber führen oft zu Gefühllosigkeit oder Apathie. Im Gegensatz dazu ermöglicht Nicht-Anhaftung eine volle Teilnahme am Leben, ohne zu versuchen, Ergebnisse zu kontrollieren.“
(David R. Hawkins, The Eye of the I, Kapitel 9, S. 195–196)
Diese Art von innerer Teilnahme – ohne Kontrolle – fühlt sich für mich nach echter Reife an.
Nicht besser. Nur freier.
Wenn dich dieser Text inspiriert oder irritiert hat, freut mich beides.
Denn genau da beginnt vielleicht ein Raum, in dem wir sehen lernen – ohne sofort zu bewerten.
Euer Jan
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